Manchmal habe ich lange Zeit keine Auftritte, keine Proben, kein Projekt oder irgendwelche Arbeiten die anstehen. Gut, ich kann immer ein wenig trainieren, etwas für meinen Körper tun, Jonglieren, Rola-Bola üben, Lieder repetieren, Alphorn und Trompete pflegen, so dass mein Repertoire immer ein wenig à Jour bleibt und nicht gänzlich verkümmert, dass ich gerüstet bin für eventuelle, anstehende Auftritte. Aber manchmal habe ich keine Lust, mag nicht trainieren, mag nicht kreativ sein. So weit, so gut. Aber eben, manchmal hänge ich erbärmlich schlapp, ideenlos und depressiv rum und dann ist es wohltuend eine Aufgabe zu haben, welche mich fordert, mir einen klaren Kopf abverlangt und dass war seinerzeit weitgehend der Grund, als ich mich vor 6 Jahren der «Spitex Gantrisch» als Fahrer angeboten habe.
Ehrenamtlicher Rotkreuzfahrdienst nennt sich das, eine eigentliche Freiwilligenarbeit. Das Rote Kreuz führt eine Statistik über diesen Service. Man fährt das eigene Auto, ist für die jeweilige Fahrt vollkasko versichert und die Tarife sind schweizweit einheitlich geregelt. 80 Rappen pro Kilometer / erste Stunde Warten ist gratis / zweite angebrochene Stunde Warten gibt 10.- Franken. Die Gäste bezahlen gleich bar und bekommen dafür eine Quittung für eventuelle Rückvergütungen, je nach ihrer Versicherung.
Die Aufträge kommen oft sehr kurzfristig und manchmal muss ich absagen oder bin auf Tournee. Die Spitex koordiniert die Fahrten, schaut welcher Fahrer in der Nähe des zu fahrenden Gastes wohnt und wenn der nicht kann, halt der nächste. Viele FahrerInnen sind Rentner und die fahren nicht so gerne in den Stadtverkehr, was für mich kein Problem ist. Man hat auch Ausweise und Behinderten-Logos welche einem das Parkieren vereinfachen. Ich fahre mit meinem Toyota-Bus, welcher nicht zu letzt von den älteren Gästen geschätzt wird, weil ihnen das Ein und Aussteigen leichter fällt als in einem Personenwagen mit tiefen Polster.
So fahre ich Leute zum Arzt, zum Zahnarzt, zum Optiker, ins Tagesspital, oder was auch immer. Ich mache dass gerne und habe es immer gut mit meinen meist alten Gästen. Primär bin ich Fahrer, aber manchmal auch Pfleger, Gesprächspartner oder Seelsorger. Ich bin redseelig, will immer wissen was sie drückt, wie es ihnen geht, woher sie kommen, wie sie aufgewachsen sind, usw. Die einen schon ein wenig dement, andere trotz hohem Alter total klar und wiff im Kopf. Die einen gut zu Fuss, andere schwach auf den Beinen, oder gehbehindert. Ich helfe sowieso immer beim ein- und aussteigen, aber die einen muss ich dann auch beim Gehen stützen und halten.
Mein erster Einsatz war die Frau S, eine ältere, betagte Witfrau vom Dorfrand zum Dorfarzt fahren. Wieder zu Hause meinte sie, ich solle reinkommen zum abrechnen und ich entgegnete, dass das meine erste Fahrt sei, die sei für sie gratis, dass sei mein Einstand und sie war irritiert erfreut.
Oft haben wir es lustig, sie mögen mich und die alteingesessenen Zimmerwaldner Frauen empfehlen mich weiter: Lydia, wenn du mal einen Spitex-Fahrer brauchst, musst du schauen, dass du den Morelli bekommst…
Einmal war ich zeitlich knapp und ich bin schnell, viel zu schnell gefahren, worauf der 85 jährige Bauer meinte: Du fährst rassig, das gefällt mir…
Mit der Frau Z war ich mal ein Stunde zu früh in der Fusspflege, das wurde schlecht kommuniziert und so sagte ich zu Frau Z, dass ich jetzt den Kilometerzähler abstelle und dass wir jetzt eine stündige Fahrt durchs Schwarzenburger-Land machen. Frau Z hat nicht so geredet, war meistens ganz stumm. Ja nun, so legte ich halt Musik auf und auch sie hatte Spass am Ausflug.
Oder die 65 jährige Frau M welche mir auf meine Frage gleich von ihrem Brustkrebs erzählt, dass sie jetzt zwar keine Brüste mehr habe, aber dass sie trotzdem noch eine Frau sei – ich war beeindruckt von ihrer Offenheit, wo wir uns doch erst seit 3 Minuten kennen. Aeltere Leute erlebe ich sowieso oft sehr ehrlich, direkt und ohne Tabus.
Und die Frau G kommt mit schlechtem Bericht und weinend aus der Onkologie. Ich muss sie in die Arme nehmen und halten. Auf dem Heimweg probiere ich das Schicksal philosophisch anzugehen und das hilft ein wenig lindern.
Oft bin ich mit diesen älteren Leuten, meistens die aus dem Bauernstand, gleich per Du.
Hans, ich muss schreien, er hört schlecht, du musst dein Gebiss wieder mal unterpolstern lassen, dass es nicht so klappert und besser sitzt. So zeige ich ihm meine eigenen, neu renovierten Zahnprothesen und dann mussten wir beide lachen…
Die Witfrau K führte ich mehrere male zum Einkaufen. Als ich sie mit den Taschen noch in die Wohnung rauf begleite, sehe ich, dass sie ganz nasse Hosen hat. Unten im Auto dann die Ueberaschung: Der ganze Beifahrer-Sitz total verpisst und der Geschmack ganz arg. Drei Stunden lang probierte ich den Sitz zu reinigen, aber die Pisse war in den Textilien und der Geruch schlecht zu tilgen. Aeltere Leute trinken oft zu wenig, nehmen noch Medikamente und so wird der Urin und sein Geschmack sehr scharf, beissend und sollte mich über längere Zeit noch im Auto begleiten. Am nächsten Morgen ging ich gleich zu Frau K die sich jetzt bestimmt schämt und sich künftig schwer tut, mich wieder anzufragen. Ich ging gleich auf den Zwischenfall ein, erst wollte sie ausweichen, aber dann erzählt sie über ihre Inkontinenz und es tat ihr sehr leid. Ich meinte, dass das passieren kann, dass das kein Problem sei, aber dass wir künftig besser kommunizieren müssen oder Vorkehrungen treffen und so habe ich sie noch weitere male zum Wocheneinkauf begleitet.
Herr F, uralt, betagt und sehr wacklig auf den Beinen hatte in der Stadt einen Arzttermin. Danach gab er mir zu spühren, dass er gerne noch in ein Wahrenhaus gehen möchte, er brauche ein neues Uhrenbändeli und eine Haarbürste. Ja klar, das machen wir, ich nahm in an der Hand und dann gingen wir shoppen.
In Niedermuhlern gabs ein Heim für geistig behinderte ältere Frauen. Mit drei von denen bin ich mehrmals in die Stadt in ein anderes Heim zur Weihnachtsfeier oder zum Lotto gefahren und wieder abgeholt. Das war immer ein riesen Gaudi, die drei verrückten Weiber und ich, immer laut und fröhlich – eine schräge, bunte Clowntruppe auf Ausfahrt…
Die soziale Spannbreite der zu Fahrenden ist gross. Der eine war Verdingkind und Knecht, der andere Gewerbeschulinspektor vom Kanton Bern, interessant was ich da für Haushaltungen antreffe. Die «Einfachen» geben mir immer, manchmal sogar ein sattes Trinkgeld. Die «Besseren» eher keines, oder höchstens ein mageres. Aber ich erwarte gar kein Trinkgeld und keinen Lohn. Ich bin etwas ehrenamtliches eingegangen und das ist gut so. Der Kilometer-Preis bezahlt mir in etwa das grosse Auto und die 10.- Franken in der zweiten Stunde warten, die Kaffee’s.
Viele, die ich zum Teil mehrfach gefahren bin, sind mittlerweilen schon gestorben – so ist das Leben und es kommt eine Zeit, da werde ich mich gleich selber fahren können.