Vorgeschichte: November 1988, Generalprobe von «Till Eulenspiegel» im Stadttheater Bern. Der Seiltanzapparat fällt wegen einer schlecht gemachten Verankerung in sich zusammen. Ich falle, ohne Folgen, 3 Meter tief auf den Bühnenboden. Da aber trifft mich der stürzende 4 Meter hohe Eisen-Seilbock am Hinterkopf und zertrümmert mir ein Stück Schädeldecke. Knochensplitter beschädigen die Sehrinde und hinterlassen schlussendlich mehrere Narben am Gehirn.
Am Unfalltag werde ich unter Vollnarkose ein erstes Mal operiert. Das Trümmerfeld wird geräumt und die Kopfhaut genäht. Vier Monate danach die zweite Operation. Oeffnen der Kopfhaut und stopfen des Loches in der Schädeldecke mittels Kunststoff.
Vom Unfalltag an wird mir Phenitoin verschrieben. Ein Medikament das epileptische Anfälle verhindern soll. Nach einem Jahr darf ich auf Grund guter EEG-Resultate aus dem Medikament ausschleichen. Ein interessanter Nebeneffekt des einjährigen Phenitoin Programms: Ich habe eine dreissigjährige Fingernagelkauer-Gewohnheit für immer abgelegt – offenbar geht dieses Medi tief an die Seele.
In den nächsten zwei Jahren erlebe ich immer wieder optische Signale, wie Blitze vor den Augen respektive im Gehirn. Diese Vorfälle stören mich nicht gross, aber ich vermag die Zeichen nicht zu deuten. Umso erstaunter bin ich, als eines Tages das Blitzen nicht mehr aufhört, im Gegenteil immer schneller und heftiger wird und im ersten grossen epileptischen Anfall endet.
Mein Hausarzt setzt mich erneut auf Phenitoin. Ich aber gebe mich nicht zufrieden, will mehr über Epilepsie wissen und kontaktiere zusätzlich einen Homöopaten. Er öffnet mir Türen zu einer anderen geistigen Ansicht und Haltung und setzt mich auf seine «Kügeli».
Nach fünf Wochen Konsumation von Medi und Kügeli entscheide ich mich die beiden Mittel abzusetzen um meinem Gehirn, wenn es so weit ist, eine drängende Entladung zu ermöglichen. Abgesehen davon, dass mich die ganze rauschhafte Angelegeheit eh fasziniert und ich durch umfassende LSD und Fliegenpilz Erfahrung sowieso keine Berührungsängste zu ausserordentlichen, halluszinogenen und irren Zuständen habe.
In der folgenden Zeit hatte ich noch weitere fünf grosse Anfälle, wobei die einzelnen Intervalle immer grösser wurden. Zudem muss ich zugestehen, dass ich in der Zeitspanne der ersten drei Anfälle noch Kokainkonsument war. Aus der Uni Zürich gibt es eine Studie die darlegt, dass Kokain, weil sehr hirnaktiv, Anfälle begünstigen kann. Cannabisprodukte wie Haschisch und Marihuana jedoch dem Krankheitsbild, weil dämpfend, eher dienlich sind. Das haben die Indianer aber schon lange gewusst, dass Cannabis zwar Rauschmittel aber für gewisse Sachen, Epilepsie z.B., auch Heilmittel ist.
Eine unmündige, unspirituelle und obrigkeitsgläubige Gesellschaft, (glauben, hoffen, religiöselen und frömmelen hat mit Spiritualität und Freiheit keinen Zusammenhang!) politische Vollidioten und eine geldgierige Pharmaindustrie verhindern jedoch nach wie vor eine Rehabilitation des vor 80 Jahren durch Amerika verteufelten Naturproduktes. Aufklärerische Literatur und Studien zu diesem leidigen Thema gäbt es zur genüge, aber die Gesellschaft lässt sich lieber belügen und träumt dafür von der Euromillion…
Meine Anfälle verlaufen immer nach dem selben Muster und weil ich eine 10 bis 15 minütige Aura (Zustand vor dem Schub) durchlebe, kann ich mich bestens organisieren.
Ich kläre anwesende Personen über das kommende Ereignis auf und bitte sie: Keine Panik, keinen Arzt, auch wenn es grauenhaft aussieht, höchstens darauf achten, dass ich beim heftigen, unkontrollierten Zucken nicht dauernd irgendwo anstosse und dass ich nach dem Anfall, wenn ich langsam erwache und mich im Dämmerzustand befinde,eine gute halbe Stunde lang nicht weiss wer ich bin, weil mir die ca. zwei – drei minütige Bewustlosigkeit während des Krampfes sämtliche Erinnerungen auslöscht.
Während der Aura aber, weiss ich genau, wann ich mich vorsorgehalbers schon mal auf den Boden setze, respektive mich hinlege. Geistig intakt beschreibe ich den anwesenden Personen meine Eindrücke und Sekunden vor dem Anfall vor verabschiede ich mich und stopfe mir noch schnell ein Taschentuch in den Mund.
Zusammenfassung: Ich hatte insgesammt sechs grosse Anfälle. Die ersten vier waren immer 4 Monate auseinander. Danach wurden die Intevalle grösser und jetzt bin ich seit vielen Jahren anfallsfrei. In Folge von «giftigen» Schnapsabstürzen kam ich in den letzten Jahren noch zwei, drei mal in den Zustand der Aura, die Anfälle jedoch blieben jeweils aus.
Manchmal habe ich Lust und Sehnsucht nach einen epileptischen Anfall und wenn es wieder mal passiert, so fänd ich das wunderbar und wenn es nie mehr eintrifft, ist es auch egal. Die gemachten Erfahrungen aber, möcht ich nicht missen.
Mit einem bösen Leserbrief habe ich vor paar Jahren die mangelhaft – aufklärerischen Machenschaften innerhalb der «Woche des Gehirns» kritisiert und dem Professor Donati arg zugesetzt. Ausgerechnet dieser Professor hat mich ein Jahr später engagiert und aufgefordert, eine clowneske Nummer zum Thema «Gehirn als Schaltzentrale für Körper, Geist und Seele» zu kreieren. Zudem hat mich Donati angeregt, meine Gedanken und Meinungen zum Thema Epilepsie aufzuschreiben, so dass er sie im Ramen der «Berner BrainWeeks» eventuel in Fachzeitschriften publizieren könnte.
Epilepsie hat in der Gesellschaft die grösste medizinische tabuisierung. Wir leben zwar im aufgeklärten 21. Jahrhundert, aber Scham, Unwissen und Verteufelung ist nach wie vor weit verbreitet.
Interessant ist, wie in heidnischen Kulturen die Epileptiker Vertraute der Schamanen waren und wie im christianisierten Europa im Mittelalter die Epileptiker auf dem Scheiterhaufen und im dritten Reich im Konzentrationslager landeten.
Die Kirchenobrigkeiten taten sich halt immer schwer mit exotische Bilderfluten, welche den Gehorsam unterwandern könnten und so hat sie im Mittelalter auch den Fliegenpilz verteufelt und ihm ein tödliches Image angehägt, welches bis heute anhält.
Wäre der Genuss diese Pilzes tödlich, so würd ich nicht mehr leben und «Alice im Wunderland» wäre nie geschrieben worden, weil nähmlich der Autor Lewis Carroll der wohl berümteste europäische Fliegenpilz Konsument war.
Historische Aufarbeitungen zum Krankheitsbild Epilepsie sind mir nicht bekannt und der spirituelle, lustvolle Aspekt will man offenbar nicht thematisieren. Eh ja, in einer Zeit wo Neoliberalismus oberste Maxime ist, da hat Gott eh keinen Platz.
Epilepsie aber kann Räume öffnen. Raum für religiöse, philosophische Betrachtungen. So kann die Thematik auch zu einer politischen Auseinandersetzung wachsen, aber genau da hört offenbar der Wille zur Enttabuisierung auf.
Im übrigen ist mir alleweil klar, dass es Menschen gibt die unter ihrer Epilepsie leiden.
Unter der Häufigkeit und Heftigkeit der Anfälle oder wegen Diskriminierung und Schikaniererei.
Als freischaffender Künstler bin ich privilegiert und pfeiffe auf gesellschaftliche Konzessionen. Ich wünscht mir z.B. schon seit langem einen Anfall auf der Theaterbüne vor versammeltem Publikum. Ein solches Ereignis könnte für alle Anwesenden zu einem nachhaltigen Erlebnis werden und was andere von mir halten, ist mir sowieso scheissegal und vom Staat lasse ich mir schon gar nicht vors
chreiben, was ich an Rauschmittel konsumieren darf und was nicht. Ach, könnte ich doch von dieser Freiheit den Geplagten unter den Epileptikern ein Stück abgeben, auf dass sie sich entkrampfen mögen, den Reichtum der Krankheit erkennen könnten, dadurch sensibler und bewuster werden und vielleicht gerade deswegen die Intervalle von Schub zu Schub grösser würden.
Ich bin ein Grossmaul und trage meine Epi-Geschichte gerne in die Oeffentlichkeit. Und so wenden sich manchmal Menschen an mich, um mit mir ungeniert über ihr Schiksal zu parlieren. Die verbale Auseinandersetzung wird dann immer zu einer philosophischen Betrachtung. Das ist meiner Meinung nach auch der einzig gangbare Weg zur einer Bewustseinsbildung und fuktioniert auch mit Kinder und Jugendlichen. Meine unverkrampfte Offenheit hilft ihnen offenbar Aengste abzubauen und eine eigene Sichtweise zu kreieren. Niemals würd ich einem Ratsuchenden empfehlen, sein Medikament abzusetzen. Nein im Gegenteil, esst eure Medikamente, wie vom Arzt verordnet, aber bitte mit Bewustsein oder aber setzt das Medikament ab, aber bitte auch mit Bewustsein. Mit andern Worten, setzt euch mit der höchst interessanten Materie auseinander, nehmt euer Schiksal in die eigenen Hände und gebt eure Verantwortung nicht einfach dem Schulmediziner ab. Es ist eine geistige Arbeit und jeder integre Mediziner freut sich auch an mündigen, selbständig denkenden und handelnden Patienten. Ein Vorwurf jedoch halte ich aufrecht, nähmlich dass Schulmediziner oft alle Fälle in einen Topf schmeissen und einfach ihre High -Tech – Medizin anbieten, ob einer einen Anfall pro Jahr oder sieben Anfälle an einem Wochenende hat wird nicht differenziert.
Auch ich bin fehlbar und auf die Mediziner angewiesen, weil die viel über mich und meinen Körper wissen und die Chirurgie z. B. ist ja mittlerweilen auf ein enormen Stand, aber eben: Manchmal habe ich meine guten Gründe, meinen eigenen Weg zu gehen und zwar voller Stolz, Glaube und Zuversicht. Glauben ist ja bekanntlich ein heikles Gebiet und mit Glauben oder Unglauben soll man nicht hausieren, aber Glauben kann alleweil Wunder bewirken. Die Kunst beim Glauben, so finde ich, besteht aber aus pragmatischer Bodenhaftung und nicht aus esotherischem Schweben.
Die folgenden Meinungen und Ansichten über meine Epilepsie Erfahrung habe ich, wie schon gesagt, auf Wunsch von Professor Donati, im Februar 2000 niedergeschrieben.
POSITIVES
Ich sehne mich, aussgenommen bei starkem Liebeskummer oder grober Depression, kaum nach dem Tod. In Anbetracht dessen, dass er ja eh mal kommt, lieber noch etwas «Bewegen» bis es so weit ist. Aber eine gewisse Sehnsucht auf diese Unbekannte kann ich bei Gott nicht abstreiten. Der Tod ist eine so gewaltige Angelegeheit, ein adäquates Ereignis kann höchstens die Geburt sein. Ich finde es normal, gelegentlich mit dem Jenseits zu kokettieren, ein Blick hinter das Rätsel zu versuchen, ich bin ein Gwundriger.
Ein epileptischer Anfall gibt mir eine abstrakte Möglichkeit, Einsicht ins Jenseits zu nehmen, bei allem Wissen, dass ich gottlob wieder ganz zurückkomme. Ein wunderbares Erlebnisangebot.
Aus dem «Jenseits» bringe ich keine konkreten Antworten, jedoch ein philosophisch gefüllter Rucksack zurück. Das Mysterium Mensch, Liebe, Universum und Gottheit bleibt bestehen und die Sinnfrage wird nicht gelöst. Das ist wohl gut so.
Die äussere Welt, aber auch die eigene Person mit veränderter Wahrnehmung, Wert und Moralvostellung zu betrachten, macht Spass und ist eine abenteuerliche, kreative, lustvolle Variante zum Grundzustand «Nüchtern».
Nach dem Anfall umgibt mich eine schier meditative Ruhe, weit und leer, aber mit vehement drängenden Grundsatzfragen: Wer bin ich, was bin ich, woher komme ich, wer schickt mich, wer sind die andern, was ist meine Geschichte, was mein Weg, was meine Aufgabe und was mein Ziel. Fragen die wir uns sowieso jeden Tag von neuem stellen sollten, kommen da in einem überaus ehrfürchtigen Umfeld an mich heran und mir bleibt das weltoffene Staunen eines Kleinkindes, bis ich zum Schluss wieder die Altersvorsorgenummer soundso bin.
NEGATIVES
Die stressige Zerrissenheit während der Aura. Darf ich mich freudig gehen lassen, oder muss ich mich anständig zurückhalten.
Aus Erfahrung weiss ich, dass ich, im Dämmerzustand nach dem Anfall um meine Identität kämpfen werde. Eine gewisse Angst während der Aura, ich könnte nach der Absenz mein Ego und mein Erinnerungsvermögen nicht mehr erlangen, besteht.
Verrückter wird die Angst zusätzlich noch durch Gedanken, dass andere Menschen mich auch nicht kennen werden, ich dadurch einsam und hilflos sein werde, weil mir der Bezug zu meiner Geschichte, Ahnen und zu meinem Beziehungsnetz fehlt.
FASZINIERENDES
Wenn ich während der Aura die Zeichen erkenne, dass der Countdown wirklich läuft und ich das kommende Ereignis bedingungslos akzeptiere, trotz den Aengsten um gewisse seelisch existenziellen Fragen, dann geniesse ich das mehrminütige bombastische Feuerwerk im Kopf, die konstante Beschleunigung in der ich mich befinde, orgastisch ab ins Nichts…eine göttliche Annäherung an mein kleines, unbedeutendes Innerstes und an das allmächtige, zeitlose Universum.
Anhang
– Zitat aus antroposophischem Umfeld: «Epilepsie ist ein Fensterchen zum Universum».
– Der zeitgenössische schweizer Schriftsteller Klaus Merz thematisiert in der wunderbaren Novelle «Jakob schläft» unter anderem die Epilepsie seines Vaters.
– Das Museum Riedberg in Zürich hatte vor Jahren eine Ausstellung zum Thema Glückseeligkeiten am laufen. Da wurde die Epilepsie mit orgastischer Glückseeligkeit verglichen.
– Der Berner Professor Brenneisen forscht seit über 20 Jahren zum Thema Cannabis
als alternative Heilmethode im Zusammenhang mit Epilepsie und Migräne. Die Erkenntnisse, Fakten und Erfolge sind klar und eindeutig.
– Der weltberümte russische Schriftsteller Dostojewskij war ein Epileptiker. Er hat seine Krankheit in mehreren Romanen thematisiert. Von ihm stammt das folgende Liebesbekenntnis: «Ihr könnt mir alles wegnehmen, nur nicht meine epileptischen Anfälle».