Vorgeschichte
Ein Kollege hat mir, als seine Mutter gestorben war, eine Broschüre über Sterben & Tod zum lesen gegeben. Diese Niederschrift von der berühmten Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross hätte ihn, in der Sterbebegleitung und in der Zeit zwischen Ableben und Beerdigung angenehm berührt. Ich habe dieses dünne Büchlein dann auch gelesen und es ist mir auch wunderbar eingefahren. Zart, schön, esoterisch, märchenhaft, romantisch – dem Frieden zu liebe.
Kübler-Ross schreibt von Energien, welche bei frisch Verstorbenen immer noch eine zeitlang vorhanden seien und dass deswegen der Leichnam über die Sinnesorgane nach wie vor Wahrnehmungen generieren könne. Die Wellen der Sprache zB. dringen durch Ohr und Gehörgang ins Gehirn wo, zwar zunehmend schwindende, Rest-Energien dafür sorgen, dem Geist und der Seele Infos, Reize und Gefühle zuzuspielen.
Für Hinterbliebene eine Möglichkeit auch am Sarg noch eine «Kommunikation» zum Verstorbenen zu unterhalten – Frieden schliessen, danken, Versöhnung, Vergebung, Liebe bekunden, Trauer, Humor, Verabschiedung usw. Die Theorie von Kübler-Ross ist Seelsorge. Den Toten geht’s zwar am Arsch vorbei, aber den Angehörigen und Freunden hilfts beim weiterleben.
Anmerkung
– Kübler-Ross probierts wissenschaflich. Für mich ist es aber eh stinknormal, dass man einen Leichnam noch berühren, halten, streicheln, respektive ihm was sagen kann.
– schwieriger wird es beim Selbstmörder, der sich mit dem Sturmgewehr in den Mund schoss und der Kopf und das Gehirn wie Gekotztes an der Diele klebt. Wo die Einsarger den Angehörigen höchstens noch eine Hand zum berühren zumuten. Wo mag sich da wohl das Energie-Zentrum, die Schaltzentrale von Körper, Geist und Seele befinden, im Solarplexus oder im Knie? Und beim Kriegsopfer, wo man zum Einsargen nur Beine und Rumpf vorfindet? Ja nun, die kosmische Energie auf jeden Fall, ist auch in einer einzelnen Zehe allgegenwärtig und genau so in der Asche nach dem Krematorium.
Hauptgeschichte
Im Restaurant «Linde» Laupen, wo ich aufgewachsen bin, hatte ich eine Grossmutter, das Linde-Grosi. Sie war eine liebevolle, fleissige, strenge, eine stattliche Erscheinung und eine unregelmässige Kirchgängerin. In meinen jungen Jahren kam sie abends immer ans Bett zum Beten. Dann haben wir jeweils zusammen gesungen: «I köre äs Glöggli das lütet so nät, dr Tag isch vergange, jitz ga n’ig i ds Bett. im Bett tue n’ig bäte u schlafe de i, dr Liebgott im Himu wird wou bimer si.» Und was das Grosi auch immer noch sagte: «Nimm die Hände unter der Decke hervor!» und das war Befehl. Diese Aufforderung habe ich immer brav befolgt, im Wissen darum, dass wenn sie mein Zimmer verlassen hat, ich mit meinen Händen tun und lassen kann was mich gelüstet.
Das Linde-Grosi war noch ein paar Jahre Witfrau, bis sie dann altershalber, ganz natürlich, zu Hause im Familienkreis gestorben ist. Dann hat man sie eingesargt und in ihrem Zimmer noch drei Tage aufgebahrt. Das war normal, hatte man Jahre zuvor schon mit dem Grossvater so gemacht. Schöner Brauch, so kann man die Toten noch besuchen, sich zu ihnen setzen, sinnieren, meditieren, parlieren und lamentieren, sie berühren und die Zeit bis zur Beerdigung mit ihnen teilen.
Eines abends, unten im Restaurant war viel Betrieb und meine Eltern, Personal und Tante Trudi in der Küche hatten alle Hände voll zu tun, habe ich mir gesagt: «Ich weiss ja was ich zwischen meinen Beinen habe. Jetzt will ich wissen was das Grosi zwischen seinen Beinen hat – der Zeitpunkt ist günstig, sie wird sich meinem Vorhaben nicht wiedersetzen können.» So schlich ich in ihr Zimmer, wo der Sarg auf zwei Schemel in der Raummitte stand, so dass man darum herum gehen konnte. Grosi war schön zurechtgerichtet. Die langen grauen Haare wie immer zum Bürzi gesteckt, die Hände auf dem Bauch gefaltet, das Gesicht wegen fehlendem Gebiss eingefallen, die Augenhöhlen tief, die Haut bleich mit einem leichten Stich ins Blaue – drei Tage nach ihrem Ableben. So lag sie friedlich vor mir, im weissen Totenhemd und mit Blumen garniert. Der Geruch war eigenartig, ein Mix aus Verwesung und Schnittblumengärtnerei. Als ich sicher war, dass mich jetzt auch niemand überraschen wird, habe ich den Blumenschmuck beiseite geschoben, das Totenhemd, dass bis zu den Knöcheln langte, zurückgefaltet uns so ihren Unterleib entblösst. Das ging ganz praktisch, weil das Totenhemd nur eine Attrappe war und den Körper nicht rundum bekleidete. Dann habe ich ihre kalten und irgendwie steifen Oberschenkel auseinandergedrückt und die Sicht auf ihre Scheide freigemacht. Da lag er nun vor mir, dieser geheimnissvolle Schlitz, der dem sexuellen Spiel, dem Gebären (sie hatte vier Töchter geboren) und dem Pissen gleichermassen dient. Ich war beeindruckt ab den grossen Schamlippen und unzähligen weiteren Falten und alles von schütterem grauen Haar umgeben. Und wie ich so über den Sarg gebeugt, voller Respekt und Vorsicht, zwischen den Schenkel meine Erkundigungen mache, höre ich plötzlich eine helle, zarte, ganz leise, aber sehrwohl verständliche Stimme und die sagte: «Marco, du Schlingel…», dann noch ein zweites mal: «Marco, du Schlingel…» , dann war wieder Totenstille…
und das ist der ultimative Beweis, dass Kübler-Ross mit ihrer Theorie, mit ihrer Aussage absolut recht hat – auch Tote können noch registrieren und wie das Grossmutti sogar noch quittieren
…ich war befriedigt und hatte gesehen, was ich sehen wollte. So habe ich das Totenhemd wieder zurechtgerichtet, die Blumen und die gefalteten Hände wieder ordentlich drapiert und das Zimmer verlassen. Um eine Erfahrung und um ein Geheimnis reicher und glücklich, die einst so strenge, gar prüde Grossmutter auf dem falschen Bein erwischt zu haben.
Nachgeschichte
Ich habe diese Geschichte mal einem Freund erzählt, worauf mich dieser total zusammenschiss, ich sei ein Leichenschänder und ein sexueller Perversling. Die Schelte war so heftig, dass ich erst am nächsten Tag merkte, wie ich hätte reagieren müssen, nähmlich ganz einfach. Eh ja, wäre ich damals an Grossmutters Sarg 22 Jahre alt gewesen, könnte man mir, von mir aus, diese Vorwürfe anhängen. Aber eben, als ich Grossmutter damals im Sarg besuchte war ich genau 13 Jahre alt, stand ganz am Anfang meiner Pubertät, machte erste erotische Erfahrungen und war gleichzeitig im Laupenwald noch mit Pfeil und Bogen als Indianer unterwegs. Also, Leichenschänder und Perversling greift absolut nicht. Im Gegenteil, da ist ein 13 jähriger Jüngling mit einer gesunden Portion Neugierde, mit entsprechender Fantasie und Thematik, mit Humor und Schalk, ohne Angst vor dem Tod, ohne Angst vor Moral, ohne Angst vor einem Liebgott im Himmel der mich abstrafen wird, und vorallem ohne Angst vor einer toten Grossmutter. Diese Geschichte ist sinnlich, ehrlich, liebevoll und voller Vitalität. Hätte der Filmemacher Federico Fellini um dieses Erlebnis gewusst, die Sequenz wäre in einem seiner Filme platziert worden.
Man kann mir jetzt noch vorwerfen, pervers sei aber, dass ich diese Anektote als 58 jähriger noch zum besten gebe. Das mag stimmen und genau deswegen erzähle ich sie ja – denn lieber pervers als tot.